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Trugbild

Trugbild Buch

Als Chris Keller zum ersten Mal den Mann mit der Lokführeruniform sieht, muss er feststellen, dass er sein Leben nicht mehr unter Kontrolle hat. Jedoch erst auf Drängen seiner Schwester begibt Chris sich daraufhin in die Obhut eines Psychologen, mit dessen Hilfe er der bizarren Halluzination auf den Grund gehen will.

Zunächst scheint es zu helfen, dass Chris mit jemandem über seine Probleme sprechen kann. Die Sorge um seinen Krebskranken Vater, der zusammen mit seiner Schwester Marie den letzten Rest Familie darstellt und seine Existenzangst in einer Geschäftswelt, die nur noch aus Haifischen mit Anzug und Krawatte zu bestehen scheint.

Doch gerade als Chris sich im Meeting mit einem großen Immobilienmagnat befindet, dessen Auftrag ihn über Jahre absichern würde, taucht sein unheimlicher Verfolger erneut auf und verursacht einen Unfall, der Chris neben dem Job auch beinahe das Leben kostet. Da entschließt er sich dazu, das Problem selbst in die Hand zu nehmen.

Gegen den Wunsch seines Psychologen und unter den sorgsamen Augen seiner Schwester versucht Chris, selbst das Rätsel um den Lokführer zu lösen. Eine ominöse Spur führt ihn immer weiter weg von zu Hause und in die Tiefen seiner eigenen Psyche, wo etwas begraben liegt, dass er selbst dort verscharrt hat.

Kapitel 1

Trugbild Cover

1

Als er den Vogel mit den grünen Flügeln sah, tauchte ein Satz vor seinem Inneren Auge auf. Löse mich, sieh mich an. Ich bin einer von denen, die zur Lösung gehören, wenn sie Gott sehen. Doch er hatte keine Ahnung, was die Worte zu bedeuten hatten und so behielt er sie lieber für sich.

"Über was denken Sie nach?", fragte der grauhaarige Mann auf der anderen Seite des Tisches und überschlug die Beine. “Über was soll ich denn nachdenken?”, antwortete der jüngere, ohne sich von dem Ausblick hinter der Glasfront abzuwenden. Der alte schien sich von der arroganten Geste nicht einschüchtern zu lassen und lehnte sich weiter in seinen Sessel zurück. Seine Augen lagen hinter dick gerahmten Brillengläsern und musterten den wesentlich jüngeren Mann auf der anderen Seite des Tisches mit der Ruhe eines alten Lehrmeisters. Er betrachtete die perfekt sitzende Jeans, das weiße Hemd, das beinahe ohne Falten hinter dem braunen Ledergürtel verschwand, die gleichfarbigen Schuhe und die dunkelblonden Haare, die über die Stirn des jungen Mannes vielen. Er sah den leicht überfälligen Dreitagebart und die sauber gefeilten Nägel. Die Finger der rechten Hand drehten einen silbernen Ring hin und her, zogen ihn ab, stülpten ihn wieder über den Ringfinger und es begann von vorne. “Gibt es nichts, von dem Sie mir erzählen möchten?, begann der alte mit sachlichem Tonfall. “Etwas, was Sie in letzter Zeit erlebt haben, etwas, was Sie belastet?” Der jüngere zog die Mundwinkel nach unten und schüttelte langsam den Kopf. Dabei viel sein Blick auf die kurze Wand des langgestreckten Raumes. Wie der Boden war auch sie aus samtglattem Beton, der noch die Löcher der Schalung zeigte, in der er gegossen wurde. Im Zentrum der Wand hing eine Zeichnung. Sie bestand nur aus einer Linie und formte die Umrisse eines Kamels. Unter dem Bild stand eine ebenfalls geschwungene Liege aus braunem Leder mit einem Sessel am Kopfende. “Mich belastet dieses Bild.”

Der alte sah über die Schulter und drehte sich gleich wieder zurück. “Gefällt es ihnen nicht?”, fragte er. “Es hat bestimmt ein Vermögen gekostet”, sagte Chris und sah den alten an. Der schmunzelte. “Wieso glauben Sie das?” - “Weil es von Picasso ist.”, erwiderte der junge. Der alte nickte achtungsvoll. “Sie kennen sich aus.” Den jüngeren lies das Lob kalt. “Jemand hat Picasso mal gefragt, wieso seine Zeichnung von einem Stier so teuer ist. Schließlich ist sie ja nur aus einem Strich.” Chris musterte das Bild “Und Picasso nickt nur zufrieden und sagt: Es ist nur ein Strich. Und Sie haben trotzdem erkannt, dass es ein Stier ist.”

“Eine schön Geschichte.”, antwortete der alte und lächelte gutmütig. “Aber dieses Exemplar hier ist eine Fälschung.” Auch Chris fuhr ein Lächeln über die Lippen und verschwand noch im selben Moment.

Ein paar Minuten Vergingen, bevor der alte wieder das Wort ergriff. “Wenn Sie nicht mit mir sprechen möchten, warum kommen Sie dann seit zwei Wochen hier her?” - “Ich bin nur hier, weil meine Schwester mich darum gebeten hat.”, sagte der jüngere und krempelte geduldig seine Hemdsärmel nach oben. Der alte schien überrascht. “Sie sind aber ein vorbildlicher Bruder.” Er sah den jüngeren an, der seinem Blick nicht lange standhielt.”Wenn es nach mir ginge, wäre ich nicht hier.”

“Es ist eben ein großer Schritt, sich dafür zu entscheiden, Hilfe anzunehmen. Selbst Menschen, die ihren Partner verloren haben, brauchen Jahre, um sich mitzuteilen.” Der junge zuckte mit den Achseln. “Vielleicht haben die Leute Angst vor dem, was andere denken?” Der alte nickte bedächtig. “Was denken Sie, war der Grund für Ihre Schwester, Sie zu mir zu schicken?” Die Finger, des jüngeren, gruben sich in die schwarzen Polster der Stuhllehne, während sein Blick wieder in die Ferne schweifte. Er betrachtete den Wald , der vor dem Haus steil abfiel und in einiger Entfernung die Dächer eines mittelalterlichen Dorfes umschloss. Er sah, wie die roten und gelben Kronen der Laubbäume mit dem Grün der Nadelbäume in der Ferne zu einer Fläche verschmolzen und wie eine Stromschnelle in die Ebene hinabflossen. Auf halber Strecke zum Horizont traf sie auf chaotisch verteilte, quaderförmige Gebilde, die sich unter dem Horizont zu einer grauen Fläche verdichteten. In ihrem Zentrum lag eine Stadt mit Türmen aus Glas.

2

“Es war letzten Freitag.”, begann Chris, woraufhin eine Joggerin mit einem golden Retriever vor ihm auftauchte und geisterhafte Wolken zurückließ, in denen das Licht der späten Nachmittagssonne sichtbar wurde. Die Wölkchen und der Geruch von frischem Schweiß und Deodorant blieben noch einen Moment während die Frau bereits mit wippendem Pferdeschwanz in der Ferne verschwand.

Chris sah die braunen Blätter, vor sich auf dem Kiesweg, spürte die Wärme und das sanfte Vibrieren von Maries Kopf auf seiner Schulter und hörte, wie sie mit heller Stimme ein Lied summte. “Rocketman!”, sagte er, woraufhin die Frau ihren Kopf von seiner Schulter hob und sich lächelnd die blonden Haare aus dem Gesicht streifte. „Ich hab ja noch nicht mal angefangen.”, sagte sie, während ihre Lippen sich zu einem gespielten Schmollen formten. ”Du bist dran!”. Doch Chris wendete den Blick ab. Er hatte die Lust an dem Spiel verloren.

Natürlich mochte er diese Momente, in denen er sich mit seiner Schwester ein bisschen in seine Kindheit zurück versetzt fühlte. In eine Zeit, in der sie sich noch ein Zimmer teilten und die Mutter ihnen abends Geschichten von gerissenen Räubern und schwarzen Gespenstern vorlas. Die Geschichten endeten immer damit, dass die Helden glücklich waren, bis ans Ende ihrer Tage. Doch das wahre Leben ging an dieser Stelle weiter. Und seit ein paar Wochen gab es einen bösen Eindringling in seiner schönen Welt. Ein Gefühl, das ihm nachts den Schlaf raubte und am Tag die Konzentration, das kam und ging, wie Kopfschmerzen und sich nie so recht zuordnen lies.

Marie schien die Falten auf seiner Stirn bemerkt zu haben und fuhr ihm mit der flachen Hand über die Wange. „Na, was grübelst du?” Chris drehte sich zu Marie und lächelte. “Nichts besonderes.” Als er wieder nach vorne sah auf die Reihe uralter Kastanien und die große Wiese dahinter, verschwand sein Lächeln. Der Grund dafür war nicht der rote Ball, der dort in weiten Bögen durch die Luft flog und auch nicht die Kinder, die ihm hinterherjagten. Es war nicht das Laub, das die kleinen bei dem Treiben auf- wirbelten und auch nicht ihre vergnügten Schreie. Es war der schwarze Fleck, der vor ihnen aufgetaucht war.

Chris rieb sich die Augen auf der Suche nach der vermeintlichen Wimper, doch der Fleck blieb. Er dachte an eine Verletzung im Auge, eine geplatzte Ader vielleicht. Doch als eines der Kinder in seine Richtung lief, um den Ball zurück zu holen, wurde die Fläche für einen kurzen Moment verdeckt. Was immer Chris sah, es befand sich tatsächlich auf der Wiese.

“Ich warte”, sagte Marie. “Auf was?”, fragte Chris abwesend. “Darauf, dass du mir ein Liedchen trällerst.” “Ach so, ja! Ja, ein Lied. Ich denke nach.” - “Ich weiß. Aber nicht über ein Lied.”, sagte seine Schwester herausfordernd. “Nein ich…” Chris wendete sich wieder der schwarzen Silhouette zu, die, wie er feststellte, an den Seiten seltsam unscharf war, so als hätte sie jemand aus dem Bild geschnitten, woraufhin die Farbe der Umgebung ins nichts hinein zu fließen begann.

“Sag mal, siehst du das?”, fragte Chris und lehnte sich nach vorne. Marie versuchte seinem Blick zu folgen. “Hinter den Bäumen? So weit kann ich ohne Brille nicht sehen.” Als Marie das sagte, griff ihr Bruder in seine Manteltasche und zog ein schwarzes Etui heraus. Ohne sein Ziel aus den Augen zu verlieren, holte er eine rahmenlose Brille heraus und klappte sie auseinander. Als er die Gläser über die Nase schob und der grüne Brei der Wiese sich zu einer Textur aus einzelnen Grasbüscheln verwandelte, wurde auch der Fleck scharf. Chris sah einen Mann in einem schwarzen Anzug. Er saß auf einem Stuhl nur wenige Meter vor den Kindern, die sich aber nicht für ihn zu interessieren schienen. Er war sehr blass und starrte mit großen Augen zu Chris, als wäre er überrascht, ihn hier zu sehen.

3

Ein Summen tauchte neben Chris auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah, wie eine Jalousie vom oberen Ende der Glasfront hinunterfuhr und dabei das einfallende Licht der Abendsonne in Scheiben Schnitt. “Wer glauben Sie, war dieser Mann?”, fragte der alte, nachdem die Lamellen auf der Hälfte des Fensters zum Stillstand gekommen war. Chris betrachtete abwesend, wie in den Lichtstreifen ein Universum aus Staubteilchen sichtbar wurde. Dann richtete er seinen Blick wieder nach vorne, so als wäre ihm gerade wieder eingefallen, warum er überhaupt hergekommen war. “Haben Sie schon mal jemanden für verrückt erklärt?”, fragte er und schien den Alten damit zu überraschen. “Was verstehen Sie unter Verrückt?” Chris schüttelte den Kopf. “Ich weiß nicht. Sowas wie Schizophrenie?”, fragte Chris. “Eine Äußerst schwere Erkrankung. Glauben Sie etwa, Sie könnten schizophren sein?” - “Sagen Sie es mir.” Der alte rückte sich in seinem Stuhl zurecht. “Wenn ich Sie für Schizophren hielte, würde ich es Ihnen wahrscheinlich nicht sagen.” - “Wieso nicht?”, fragte Chris mit sichtlicher Neugier.

Der alte deutete nach vorne. “Was sehen Sie hier auf dem Tisch.”, fragte er und Chris lies den Blick über die Glasplatte, deren Metallkonstruktion viel zu filigran schien, um ihr hohes Gewicht tragen zu können.“Ich sehe eine Karaffe. Und daneben sind zwei Gläser mit Untersetzern.” Der alte nickte. “Wie würden Sie reagieren, wenn ich Ihnen sage, dass der Tisch leer ist?” Chris sah wieder auf und hielt einen Moment inne. “Ich würde sagen, dass Sie lügen.” Der alte nickte zufrieden.

“Für sie sind die Gläser auf dem Tisch real. So wie die Stimmen im Kopf des Schizophrenen. Wenn ich etwas sage, was Ihrer Wahrheit widerspricht, würden Sie sich nur verschließen.” Chris reagierte skeptisch. “Wie können sich Menschen davor verschließen, dass Sie Dinge sehen, die alle anderen nicht sehen?” - “Sie werden kreativ.” Chris sah den alten fragend an. “Menschen können sehr kreativ werden, wenn es darum geht, ihren Glauben zu verteidigen. Dann kommen die Bilder eben von einem Chip in ihrem Kopf, den die Regierung dort eingepflanzt hat. Sie sind Teil einer Verschwörung und alle Menschen in ihrer Umgebung sind eingeweiht.” Chris blickte nachdenklich ins leere. “Vielleicht glauben Sie auch an Außerirdische.” - “Oder Gott.”, ergänzte der alte und Chris lachte trocken, wobei er die Staubteilchen in den Lichtstreifen aufwirbelte. “Also Gott habe ich nicht gesehen..” Der alte lehnte sich zurück. “Was haben Sie dann gesehen?”

4

Die Staubteilchen in der Luft verwandelten sich in Laub, das von einem Windstoß aufgewirbelt, durch die Allee gefegt wurde, während das Rascheln in den Bäumen zu einem wütenden Sturm heranwuchs. “Chris, du bist ein bisschen blass. Geht es dir nicht gut?” Maries Stimme klang dumpf und weit entfernt, als würde sie durch eine Zimmerwand mit ihm reden. Trotzdem hörte er die Sorge in ihren Worten, die vermutlich mit dem apathischen Blick ihres Bruders zusammenhing.

Nachdem seine Augen sich an die Brille gewöhnt hatten, stellte Chris fest, dass er sich mit seiner Feststellung, den Mann betreffend geirrt hatte. Er saß nicht wirklich auf einem Stuhl. Zwar nahm er mit den angewinkelten Beinen, dem leicht nach vorn gebeugten Oberkörper und den auf die Oberschenkel gestützten Ellbogen eine sitzende Haltung ein, doch da war nichts zwischen ihm und dem Boden, das ihn auf irgendeine Art hätte stützen können. Dennoch schien die Haltung ihm keinerlei Anstrengung zu bereiten, was auf Chriss bizarr wirkte.

“Was zur Hölle macht der da?”, fragte Chris ohne die Lippen zu bewegen, so als wolle er vermeiden, dass der Mann etwas von der Frage mitbekam. “Meinst du die Kinder?”, fragte Marie und sah mit zusammen- gekniffenen Augen durch die Baumreihe. “Nein, direkt davor. Der Verrückte in der Uniform. Der war doch vorher nicht da.” Marie lachte auf. “Welcher Verrückte?” Chris hob seinen Arm ein kleines Stück. , “Na der da.” In diesem Moment hob auch der andere den Arm und deutete mit der geöffneten Hand in seine Richtung. Chris drehte sich zu beiden Seiten um. Doch außer ihm und seiner Schwester niemand in der Nähe.

“Oh”, entglitt es Chris, als er die kalte Hand auf seiner Wange spürte, die sein Gesicht sanft zur Seite drehte. Er sah Maries weit geöffnete Augen. “Chris, du siehst wirklich nicht gut aus. Vielleicht gehen wir lieber. Es wird sowieso bald dunkel.” - “Mir geht’s gut.”, sagte er und stand auf. “Aber ja, lass uns gehen. Der komische Vogel geht mir auf die Nerven.” Marie sah einen Moment zur Seite und dann wieder nach oben zu ihrem Bruder. Ihre Miene war besorgt aber ihre Stimme klang ruhig und kontrolliert. “Wen meinst du denn?”

Chris sah sie fragend an und wendete sich zurück zur Wiese. Der Mann war in der Zwischenzeit aufgestanden und sah mit abgewandtem Oberkörper und leicht geöffneten Mund zu den beiden herüber. Da tauchte ein Gedanke in Chris Kopf auf. Er wurde begleitet von einem Impuls, der sich wie ein Peitschenhieb von seinem Bauch über den Rücken bis in die Spitzen seiner Glieder ausbreitete. Wie ferngesteuert hob er den rechten Arm und beobachtete, wie der andere die Bewegung mit seinem linken kopierte. Dann öffnete Chris die Hand und bewegte sie auf der Höhe seines Kopfes von einer Seite zur anderen. Der andere tat es ihm gleich.

Chris reagierte wütend auf diese ungeheure Provokation. “Was wollen Sie denn von mir?”, rief er. Seine Stimme klang heiser und schien dennoch zu übertönen, was der andere ihm in diesem Moment mit verwundertem Blick zurief. Chris Beine wurden weich und er spürte, wie sein Arm von einer fremden Kraft nach unten gezogen wurde. “Komm Chris, lass uns gehen.” Maries Stimme klang nun nicht mehr so sicher und gefasst wie zuvor. Sie griff in seinen angewinkelten Arm und versuchte, ihn zu sich zu ziehen. Dabei sah sie nervös zu den Passanten, die um sie herum langsamer geworden waren und sich teils mit neugierigen, teils verängstigten Blicken zu den Geschwistern umdrehten. Ein altes Ehepaar blieb stehen.

“Was ist denn Marie? Ich lass mich doch von dem Kerl nicht verarschen.”, sagte er ohne sich umzudrehen. Auch der andere schien etwas zu rufen, jedoch wurden seine Worte vom Wind verschluckt. Der provokant unsichere Gesichtsausdruck des Fremden war mittlerweile einer wütenden Fratze gewichen. “Sagen Sie mir, was sie wollen oder lassen Sie uns in Ruhe.” Chris Stimme wurde lauter und überschlug sich beinahe. Seine Schwester weiter ignorierend, stellte er sich angriffslustig dem Mann entgegen und machte ein Paar Schritte in seine Richtung. Als dieser sich aber mit dergleichen aggressiven Haltung auf Chris zubewegte, blieb dieser verunsichert stehen.

Chris versuchte einzuschätzen, mit wem er es zu tun hatte. Er musterte den Anzug mit der doppelten Reihe silbernder Knöpfe, die das Jackett verschlossen, betrachtete den roten Nadelstreifen, der an den Außenseiten seiner Arme und Beine entlanglief und die goldenen Abzeichen auf der Schulter. Der Mann machte einen ordentlichen, sehr offiziellen Eindruck, was von der Schirmmütze unterstrichen wurde, die Chris von Kapitänen oder Piloten kannte. Darum traute Chris sich, noch ein paar weitere Schritte in die Richtung des Mannes zu gehen.

Auch der andere machte ein paar zögerliche Schritte, bis er an einem der Bäume vorbei auf den Rand des Weges trat. Etwas mehr als fünf Meter lagen zwischen den beiden und Chris erkannte Schweißperlen auf dem aschfahlen Gesicht seines Gegenübers. Knapp unter dem Ansatz der Mütze war ein münzgroßer schwarzer Punkt. Für ein Muttermahl viel zu dunkel. Ein Brandfleck vielleicht?

“Chris.”, sagte Marie, wobei es mehr wie eine Frage klang. “Du machst mir Angst.” Sie berührte vorsichtig seine Schulter. Doch er reagierte nicht auf sie. Stattdessen hob er mit offenem Mund und ungläubigen Blick den Arm und sah, wie der anderes es ihm gleichtat. Doch bevor ihre Handflächen sich berührten, kam die Joggerin mit dem Golden Retriever zu ihrer zweiten Runde vorbei und lief geradewegs auf den bleichen Mann in Uniform zu. “Hey!”, stammelte Chris, stolperte zurück und konnte nur noch dabei zusehen, wie die unaufmerksame junge Frau geradewegs mit dem Uniformierten kollidierte.

Doch es gab keinen Aufprall. Genau in dem Moment, als die beiden sich berührten verschwand der Mann und lies die Frau ungehindert passieren. Das einzige, was zurück blieb, war eine geisterhafte Wolke mit dem Geruch von frischem Schweiß und Deodorant.

5

Die Spitze des Kugelschreibers tanzte wild über den Notizblock und verstummte erst, als der Alte ihn zusammen mit der Notiz zwischen seinem Oberschenkel und der Stuhllehne verschwinden lies. “Was glauben Sie, dort gesehen zu haben?”, fragte er, während Chris seinen Blick über die Wand gegenüber der Glasfront schweifen lies. Sie war beinahe komplett mit Büchern bedeckt und so hoch, dass eine Leiter, geführt von einer Metallschiene nötig war, um die obersten Reihen zu erreichen. Nur an einer Stelle wurde die Wand aus Wissen von einer Holztür durchbrochen.

Chris lies den Blick über die Buchrücken schweifen, die ihm am nächsten lagen. Die meisten trugen Worte wie Analyse, Statistik und Psychologie in ihren Namen. Ein Titel schien dabei nicht in die Reihe zu passen. Drachen, Doppelgänger und Dämonen: Über Menschen mit Halluzinationen. “Ich denke, es war eine Halluzination.”, sagte Chris und schnappte noch einen weiteren Titel aus der Bücherreihe auf. “Vielleicht das Charles-Bonnet-Syndrom.”

Der alte schien überrascht. “In der Tat. Das könnte eine Möglichkeit sein.”, sagte er und nickte anerkennend. “Wie kommen Sie darauf, dass es CBS ist?”, fragte er dann mit überzeichnetem Interesse “Sagen Sie es mir.”, konterte Chris. “Es steht doch bestimmt in einem der vielen Bücher, die sie gelesen haben.”, sagte er und nickte zur Seite. “Oder sind die nur zur Zierde?”

Der alte dachte kurz nach, stand auf und trat mit ruhigen Schritten vor das Regal. Dort steckte er die Hände in die Taschen seiner grauen Stoffhose und blickte über die dicken Gläser seiner Brille hinweg auf die unzähligen Buchrücken. “Sie wollen, dass ich nach dem Buch greife, in dem ihr Problem steht?”, fragte er Chris mit Blick über die Schulter. “Dafür bezahle ich Ihnen einen Haufen Geld.” In diesem Moment entglitt dem alten das erste Mal während des gesamten Gesprächs eine Gefühlsregung. Es war Empörung. Er griff gezielt ein Buch heraus, kam damit zurück und legte es vor Chris auf den Tisch. Es war genau das, von dem er abgelesen hatte.

Der alte lies sich zurück in den Sessel fallen und überschlug die Beine. “Ich habe jedes dieser Bücher gelesen.” - “Und warum sagen Sie mir dann nicht einfach, was ich da gesehen habe?”, fragte Chris heiser. “Weil ich kein Mechaniker bin.”, erwiderte der alte und beobachtete, wie der jüngere weiter das Buch musterte. Nicht, dass es ihn noch groß interessierte. Er hätte nur in diesem Moment keine Sekunde lang dem Blick seines Gegenübers standhalten können. “Und Sie sind kein Motor. Es gibt kein Anleitung, in der steht, wie ich Sie reparieren kann.”

Chris sah an dem Buch vorbei auf den roten Teppich unter der Tischplatte und begann, an seinem Ring zu drehen. “Ich kann nur wissen, was Sie mich wissen lassen. Ob ich Ihnen helfen soll oder nicht, diese Entscheidung liegt alleine bei Ihnen.” Chris sah, wie die schwere gläserne Tischplatte in den rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne zu glühen begann und dabei einen Regenbogen an die weiße Decke über ihm warf. Er öffnete den Mund, als wolle er zu einer Erwiderung ansetzen, schloss ihn dann aber wieder.

So saßen die beiden sich einige Zeit schweigend gegenüber, bis der alte auf seine Armbanduhr sah. “Unsere Zeit ist leider um. Wir müssen es vorerst so stehen lassen.” Er stand auf und Chris folgte ihm mit abwesenden Blick. Als sie an der Tür stehen blieben schüttelte er den Kopf, so als wäre er gerade aus einer Trance erwacht. “Was ist, wenn es wieder kommt.”, fragte er heiser, während sein gegenüber die Tür öffnete. “Kann ich irgendetwas tun?” Der alte musterte die müden, rot umrandeten Augen des jüngeren und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. “Schlafen Sie mal wieder.”

Das Projekt

Jeder kennt es, von der eigenen Fantasie mal einen Streich gespielt zu bekommen. Wenn nachts die Bäume im Park unheimliche Gestalten formen oder sich morgens in der Bahn die Traumbilder im Halbschlaf mit der Realität vermischen. Doch was, wenn die Einbildung so stark ist, dass man sie kaum noch von der Wirklichkeit unterscheiden kann? Was, wenn man sich im klaren darüber ist, dass man nur träumt und der Geist trotzdem nicht verschwinden?

Das waren die Fragen, die mich vor etwa fünf Jahren zu Trugbild inspirierten, nachdem ich mit meinem Erstlingswerk Bermuda - Willkommen auf der Insel die ersten holprigen Schritte als Autor unternommen hatte. Mit dem Wunsch, die Geschichte so realistisch wie möglich zu schreiben, ging ich mit der Idee zu einem befreundeten Psychologen. Ich fragte ihn, was er meinem Helden raten würde und wir starteten eine fiktive Behandlung bei Wein und Antipasti.

In den darauffolgenden Jahren während meines Studiums und meiner Arbeit als Werbetexter und Konzepter erwachten mein Held, seine Helfer und Widersacher langsam zum Leben und schufen ihre ganz eigene Geschichte. Das erste Kapitel soll einen kleinen Vorgeschmack auf das bieten, was hoffentlich bald fertig wird. Wenn Ihnen, lieber Leser, das Projekt gefällt, dann gehen Sie ein Stück mit mir und erfahren aus erster Hand, wie es weiter geht.

Herzlichst
A.Buchmacher

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